„Zwei-Reiche-Lehre“ – Versionsunterschied

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== Quellen ==
== Quellen ==
* Martin Luther: [http://gutenberg.spiegel.de/buch/von-weltlicher-obrigkeit-wie-weit-man-ihr-gehorsam-schuldig-sei-267/1 ''Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei''] auf [[Projekt Gutenberg-DE|Gutenberg.de]]
* Martin Luther: [https://www.projekt-gutenberg.org/luther/weltobri/weltobri.html ''Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei''] auf [[Projekt Gutenberg-DE|Gutenberg.de]]


== Literatur ==
== Literatur ==

Version vom 16. Juni 2020, 17:06 Uhr

Als Zwei-Reiche-Lehre fasst die protestantische Theologie verschiedene situationsbezogene Aussagen Martin Luthers über das Verhältnis von Reich Gottes und Welt, Evangelium und Gesetz bzw. Kirche und Staat zusammen.

Der Begriff wurde erst im 20. Jahrhundert zur Systematisierung der Theologie Luthers üblich. Da Luther politische Begriffe nicht eindeutig definierte, war in der Forschung lange Zeit strittig, wie weit der Dualismus der „Reiche“ auch die „Regimente“, also die tatsächlichen Machtfaktoren auf Erden, betrifft und mitbestimmt. So haben verschiedene Theologen bei Luther eine „Zwei-Regimente-Lehre“ alternativ oder zusätzlich zu den beiden „Reichen“ postuliert.

Der Begriff

Der Terminus „Zwei-Reiche-Lehre“ stammt von Harald Diem (1938). Zuvor verwendete bereits die dialektische Theologie Karl Barths seit etwa 1920 den Ausdruck „Lehre von den Zwei Reichen“. Nach 1945 dagegen wurde im Gefolge von Johannes Heckel bevorzugt von der „Zwei-Regimenten-Lehre“ gesprochen. Damit griff man auf die wohl erste Veröffentlichung zum Thema zurück: Billings „Lehre von den zwei Regimenten“ (1900). Hier wird der Sachverhalt vereinfacht „Zwei-Reiche-Lehre“ genannt, aber deren innere Differenzierung beachtet: Eigentlich muss von einer „Zwei-Reiche-und-Regimenten-Lehre“ gesprochen werden. Damit ist schon die Problematik angedeutet: Als „Reich“ gilt der räumlich gedachte Herrschaftsbereich, als „Regiment“ das faktische Machtausüben. Vielfach wurde „Reich“ je nach vorherrschender Lutherdeutung aufgefasst

Die Situationsbezogenheit der Aussagen Luthers

Luther hat selbst nie von einer „Zwei-Reiche-Lehre“ oder Ähnlichem gesprochen und keine systematische Religions- bzw. Kirchen- und Staatstheorie entworfen. Seine Schriften reagierten immer auf aktuelle Probleme, die er als Reformator vom biblischen Wort Gottes her zu lösen versuchte. Zentral sind hier vor allem die Schriften Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523),[1] zu den Bauernaufständen mit Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren (1525), Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526) und seine Predigten zur Bergpredigt (1530–1532). Ob sich daraus ein „System“ ableiten lässt, ist fraglich. Die aus Luthers Schriften abgeleiteten „Systeme“ des 20. Jahrhunderts, die von systematischen Theologen entwickelt wurden, variieren deshalb und akzentuieren Luthers Aussagen verschieden.

Der theologische Ausgangspunkt

In „Von weltlicher Obrigkeit …“ unterscheidet Luther zu Beginn das Reich Gottes vom Reich der Welt. Er ordnet beiden Reichen bestimmte Menschengruppen zu: Im Reich Gottes leben nur die „rechtgläubigen“ Christen, im Reich der Welt alle übrigen Menschen. Demnach lebt ein Christ in beiden Reichen gleichzeitig; denn er lebt nach den Prinzipien Christi und in einem Staat nach dessen Gesetzen.

Zu diesen beiden Reichen treten nun die beiden Regimente Gottes, mit denen Gott allerdings nur das Reich der Welt regiert. Das Reich Gottes existiert unabhängig von den Regimenten: Luther unterscheidet das geistliche Regiment, welches „fromm macht“, das heißt den Glauben durch das Predigtamt der Kirche in Wort und Sakrament „durch den heiligen Geist und unter Christus“ weckt, vom weltlichen Regiment, das durch das Schwertamt der Obrigkeit dem Bösen, den Unchristen, das heißt zum Schutz der Frommen, und dem Krieg wehrt, das heißt Frieden schafft. Die Unterscheidungen von zwei Reichen und zwei Regimenten dürfen nicht vermischt werden. Der Mensch findet sich nun entweder im Reich Gottes durch die Rechtfertigung allein aus Glauben vor, in dem es keine Regimente braucht, weil aus dem Glauben automatisch die guten Werke fließen, oder aber im Reich der Welt, des Unglaubens, indem er durch das Predigt- und Schwertamt konfrontiert und regiert wird. Christen unterwerfen sich aber aus Nächstenliebe der Obrigkeit bzw. dem weltlichen Regiment, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hätten. So ergibt sich für die Christen das Problem, inwieweit sie berechtigt sind, sich politisch in Staat/Welt zu aktivieren. Luther sagt dazu, dass im Reich Gottes die Bergpredigt und das Liebesgebot gelten und die Menschen sich einander nicht richten sollen (These). Andererseits sind die Christen aber gerade im Reich der Welt, dem sie freilich nicht als Bürger angehören, aufgefordert, das Schwert zu führen. Denn das Böse und das Unrecht müssen gestraft werden (Antithese):

Konkret, „mit dem einen [d. i. im Reich Gottes] siehst du auf dich und das Deine, mit dem andern [d.i. das Reich der Welt] auf den Nächsten und auf das Seine. An dir und an dem Deinen hältst du dich nach dem Evangelium und leidest Unrecht für deinen Nächsten. An dem andern und an dem Seinen hältst du dich nach der Liebe und leidest kein Unrecht für deinen Nächsten – was das Evangelium nicht verbietet, ja vielmehr an anderer Stelle gebietet.“

Nun besteht die Synthese also darin, dass Christen für sich freiwillig Unrecht unter der Obrigkeit erleiden, aber für die/den andere/n Unrecht verhindern. Das trifft besonders für das gewaltlose passive Widerstandsrecht gegen einen ungerechten Fürsten zu: An dieser Stelle gilt als verbindliche Verhaltensregel: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5,29)

Das weltliche Regiment, die Obrigkeit, hat allerdings nur Gewalt und Macht über den äußeren Menschen, das heißt seinen Leib, aber nicht über den inneren Menschen, das heißt seine Seele bzw. seinen Glauben.

Im dritten und letzten Teil dieser Schrift gibt er dem Fürsten in der klassischen Form des Fürstenspiegels Ratschläge für sein Verhalten den Bürgern gegenüber.

Zusammenfassend zeigt sich also, dass Luther seine Rechtfertigungslehre (sola gratiasola fidesolus Christus) konsequent auf das Verhältnis der Christen zur Obrigkeit anwendet: Der einzelne Christ, gerecht gesprochen durch den Glauben an Gottes Wort, ist aufgerufen, durch freiwillige Unterwerfung unter die Obrigkeit durch Schwert- und Predigtamt zu handeln und damit dem Nächsten zu dienen, das heißt allen Menschen, auch den Ungläubigen, damit der Friede im Reich der Welt gewahrt bleibt. Er gehört damit aber keineswegs zum Reich der Welt, sondern bleibt allein Bürger des Reiches Gottes. Zu bemerken bleibt zum Abschluss, dass Luther aufgrund des situativen Charakters seiner Schriften nicht in der Lage war, seine in den 1520er Jahren entworfene Konzeption durchzuhalten: Es werden in der Folgezeit die Begriffe Reich und Regiment verschieden gedeutet und wechselseitig verwendet. Später ist er gar der Auffassung, dass Christen Bürger des „Reiches Gottes“ und des „Reiches der Welt“ sind, also Bürger zweier Reiche.

Luthers Quellen

Natürlich schweben solche Ideen nicht im „luftleeren“ Raum, sondern sind den Theologen von damals, wie uns heute, vorgegebene Traditionen, aus denen auch Luther schöpfte. Es lassen sich drei Quellen ermitteln: die Lehre von den zwei Äonen, die zum Teil im Alten Testament (AT), dem Neuen Testament (NT) und in der apokalyptischen Tradition zu finden ist, die Vorstellung des Gottesstaates in De civitate Dei bei Augustinus und die Zwei-Schwerter-Theorie im Mittelalter.

Biblische Vorstellungen

Die alttestamentliche und frühjüdische apokalyptische Vorstellung der zwei Äonen besagt, dass der alte jetzige Äon, wenn die Königsherrschaft Gottes beginnt, durch einen neuen abgelöst werden wird. Im NT wird diese Vorstellung dahingehend umgeprägt, dass der alte Äon nicht mehr abgelöst wird, sondern mit dem Kommen des Messias Jesus Christus das Neue in das Alte „keilförmig“ hereinbricht. Unsere Zeit wird so seit dem Kommen Christi als „Schon-jetzt-und-Noch-nicht“ gekennzeichnet. Dies zeigt sich auch in der Vorstellung der Zwei-Reiche- und Regimente-Lehre (ZRRL) bei Luther: Das Reich Gottes kann so als „Schon-jetzt“ und das Reich der Welt als „Noch-nicht“ gekennzeichnet werden. Diese wichtige eschatologisch-dynamische Bestimmung ist ganz wesentlich für das Verständnis der ZRRL bei Luther. Ohne diese Perspektive wird sie zu einer starren, das Bestehende rechtfertigenden Konstanten.

Augustins Gottesstaat

Diese biblische Lehre nahm der Heilige Augustinus auf und verschärfte sie in Richtung eines Dualismus: civitas terrena bzw. diaboli (unter der Herrschaft des Teufels) und civitas caelestis (unter der Herrschaft Gottes) stehen sich gegenüber. Beiden steht ein eschatologischer Kampf bevor, in dem die civitas terrena untergehen und die civitas Dei erlöst werden wird. Beide „Staaten“ sind Personenverbände. Der weltliche Staat, die res publica, ist nicht einfach das Reich des Teufels, also civitas diaboli, sondern ein Zweckverband, der Frieden und Gerechtigkeit schaffen soll. Er wird bei Augustinus nicht durchwegs negativ beurteilt. Ihm kommt die Aufgabe zu, den materiellen Aspekt des Lebens zu schützen, worin dieser aber in Ermangelung der Erlösungshoffnung letztendlich scheitern wird. Die gläubigen Christen leben in Erwartung des Anbrechens des Gottesstaates, der durch den Glauben zwar in ihnen, aber nicht im Rahmen der Welt verwirklicht ist. Bei Luther wird der dualistische Gegensatz zwischen Gott (Reich Gottes) und Teufel (Reich der Welt) ganz abgelehnt, weil das Reich der Welt ja unter Gottes Handeln verstanden werden muss. Einen echten Dualismus zwischen Gut und Böse gab es historisch nur im Manichäismus.

Mittelalterliche Zwei-Schwerter-Theorie

Abschließend zeigt sich, dass die dualistische Lehre Augustins erhebliche Auswirkungen auf die Zwei-Schwerter-Theorie ausgeübt hat: der Kirche ist sowohl das weltliche Schwert durch den Kaiser als auch das geistliche durch den Papst zugeeignet. Die weltliche Macht wird so eigentlich der geistlichen untergeordnet. Genau dieses Machtgeflecht zu zerbrechen und so der Politik und der Kirche einen gewissen autonomen Bereich – allerdings nicht im Sinne einer Eigengesetzlichkeit – zuzubilligen, war eines der Ziele Martin Luthers.

Wirkungsgeschichte

Lutherische Bekenntnisschriften

Die Zwei-Reiche- und Regimente-Lehre (ZRRL) Luthers hat keinen direkten Eingang in die lutherischen Dogmatiken und Bekenntnisschriften gefunden: Allerdings bildet sie den Hintergrund für den Artikel 16 „Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment“ der Confessio Augustana (CA). Dort wird konstatiert, dass die weltlichen Ordnungen von Gott geschaffen sind und sich Christen an allen weltlichen Ämtern beteiligen dürfen. Demnach wird die Enthaltung der Schwärmer von diesen verurteilt. Diese Ordnungen bestehen für die „Zwischenzeit“, solange bis das Reich Gottes im Eschaton vollendet sein wird. Solange ist der Obrigkeit gegenüber Gehorsam zu leisten, es sei denn die Obrigkeit verführt zur Sünde. In diesem Fall ist nach Apg 5,29 LUT zu verfahren.

In Artikel 28 der CA „Von der Gewalt (Vollmacht) der Bischöfe“ wird vor einer Vermengung der beiden Regimente Gottes gewarnt. „Darumb soll man die zwei Regiment, das geistlich und weltlich, nicht in einander mengen und werfen“.[2] Als Beispiel fungiert die zu verurteilende Tradition der Zwei-Schwerter-Theorie. Das geistliche Regiment, also die Schlüsselgewalt, wird nur durch Wort und Sakrament ausgeübt. Befiehlt ein Bischof seiner Gemeinde etwas, was gegen das Evangelium steht, so muss Widerstand im Namen des Evangeliums gegen die Kirche geleistet werden. Allerdings wird die ZRRL in der CA nicht explizit als eigener dogmatischer Glaubensartikel aufgeführt.

In der Apologie der CA kommt zum Ausdruck, dass der Artikel 16 in der Confutatio keinen Anstoß genommen hat, sondern scheinbar mit dem kanonischen und zivilen Recht im Einklang stand, so dass Philipp Melanchthon nur kurz darauf einzugehen brauchte. Aber es zeigt sich schon sehr früh, dass den späteren Missverständnissen in der Deutung der ZRRL Luthers im 19. Jahrhundert schon hier im 16. Jahrhundert Vorschub geleistet wurde, wenn Melanchthon zum Beispiel das Reich Christi (Luther: Reich Gottes) ein regnum spirituale nennt.

Sowohl im Kleinen Katechismus als auch im Großen Katechismus (1529) findet sich die ZRRL in Luthers Auslegung des 4. Gebots (die Eltern repräsentieren implizit die Obrigkeit, vgl. GrKat) – im Gegenüber zum 1. Gebot, wonach wir Gott über alle Instanzen (also auch den Staat) „fürchten, lieben und vertrauen“ sollen. Der Staat ist somit weder Gegenüber unbedingter Liebe noch unbedingten Vertrauens, sondern – wie schon die Eltern – schlicht respektgebührende Autorität (weil von Gott gesetzt, vgl. Röm 13,1–7 LUT).

Weitere Reformatoren

Melanchthon

Philipp Melanchthon, der Verfasser der wichtigsten lutherischen Bekenntnisschrift, der Confessio Augustana hat eine dezidiert andere Sicht als Luther sowohl zu ordnungspolitischen Fragen und zum Staatskirchenrecht im Allgemeinen als auch zum Kirchenrecht im Besonderen. Insgesamt kann man festhalten, dass er rechtlichen Fragen weitaus offener als Luther und somit auch der weltlichen Gewalt und ihrer Rolle als von Gott gesetzte Obrigkeit deutlich positiver gegenübersteht. Spricht er in CA 28 noch davon, dass die weltliche Obrigkeit nicht die Seelen beschützt, sondern die Leiber und die leiblichen (= weltlichen) Dinge gegen die Ungerechtigkeit und die Menschen mit dem Schwert und leiblichen Strafen zur Ordnung ruft, so sagt er 1556 in der Schrift De iudiciis ecclesiae, dass das Amt der Obrigkeit die äußerliche Aufsicht über beide Tafeln des Gesetzes (also die Gebote, die Gott und den Nächsten betreffen) betrifft, so dass sie von Gott unmittelbar dazu eingesetzt ist, den Lauf des Evangeliums zu ermöglichen („cura religionis“) und alle diesbezüglichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen – womit er im letzten Schritt auch die Verbrennung Servets verteidigen kann.[3]

Zwingli

Dagegen geht Ulrich Zwingli nicht von der ZRRL aus, sondern „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ (1523):[4] Er ordnet demnach dem lutherschen Reich Gottes (opus proprium) die iustitia Gottes und dem lutherschen Reich der Welt (opus alienum) die misericordia Gottes zu. Die göttliche Gerechtigkeit kommt dem inneren Menschen und die menschliche dem äußeren Menschen zu. Göttliche und menschliche Gerechtigkeit greifen bei ihm ineinander.

Die scholastische Tradition verstand die menschliche der göttlichen noch untergeordnet, während sie Luther nebeneinander stehen sah. So ist Zwingli der Meinung, dass mit der Bergpredigt durchaus Politik gemacht werden könne: Die Kirchenzucht war so der Ausdruck, zum Beispiel im Ehegericht, wie das menschliche Recht durch das göttliche bestimmt werden konnte. Er wollte im Grunde nichts anderes als eine Theokratie, die gerade von Luther und den lutherischen Bekenntnisschriften ganz klar verworfen wurde. Zudem forderte Zwingli aktiven Widerstand gegen die Obrigkeit (Luther: passiver Widerstand), falls sie gegen die göttliche Gerechtigkeit verstoßen sollte. Allerdings ist bei aller politischen Ethik zu bedenken, dass Zwingli die spätmittelalterliche Stadt Zürich vor Augen hat und stärker von einem Stadtstaat her denkt, nicht von einem Fürstentum wie bei Luther.[5]

Calvin

Auch Johannes Calvin greift auf die Vorstellung der ZRRL in IV,20 der Institutio Christianae Religionis (1559) zurück. In seinen Folgerungen für das Verhältnis von Obrigkeit und Kirche unterscheidet er sich klar von Luther: Er fordert eine politisch-geistliche Einheit der weltlichen Ordnung. Das führte dazu, dass er es für denkbar hielt, dass „die Obrigkeit an Gottes Stelle waltet“ und sogar Todesurteile vollstreckt. Den Antitrinitarier Michael Servet hat die Stadt Genf auf Drängen Calvins hingerichtet.[6]

Bucer

Martin Bucer ging in seinem letzten Werk De regno Christi, das er (1551) im englischen Exil schrieb, in eine ähnliche Richtung, wenn er dort von der „Königsherrschaft Christi“ spricht. Darunter versteht er die Anwendung dezidiert christlicher Gesetze auf alle Bürger eines Landes. Die weltliche Obrigkeit wird dort zur Erfüllungsgehilfin der Kirche, wenn sie zum Beispiel für die gewaltsame Durchsetzung der Sonntagsruhe sorgen soll.[7]

Philosophie

Interessant ist, dass die ZRRL starke Einflüsse auf die politische Theorie der Philosophie zeitigte: So bezieht sich Hobbes im Leviathan in klarer Abgrenzung und Verwerfung auf sie. Die Kirche soll nach seiner Meinung der Autorität eines von göttlicher Gnade erwählten souveränen Herrscher unterstellt werden, während Locke in seiner liberal-christlichen Sozialtheorie mit der ZRRL übereinstimmt.

Theologie der Lutherischen Orthodoxie und der Aufklärung

In der Zeit der lutherischen Orthodoxie war die ZRRL fast in Vergessenheit geraten. Die lutherischen Dogmatiken interessierten sich mehr für die Drei-Stände-Lehre und die Schöpfungsordnungen. Zudem scheint sich die protestantische Theologie insgesamt, auch in der Aufklärung, keine Gedanken zum Thema Macht und Politik gemacht zu haben.

Deutungen im 19. und 20. Jahrhundert und deren Kritik

Im 19. Jahrhundert richteten Autoren wie Christoph Luthardt, Karl Holl, Rudolph Sohm, Wilhelm Herrmann und Friedrich Naumann von neuem ihr Interesse auf die ZRRL, die sie im Sinne einer völligen Trennung analog zur Trennung von Staat und Kirche verstanden. Die lutherische Unterscheidung von Christ- und Welt- oder Amtsperson wurde im dualistischen Sinne von Innerlichkeit und Äußerlichkeit verstanden. Ernst Troeltsch warf deshalb der ZRRL die Konstruktion einer „doppelten Moral“ vor. Er beobachtete einen Rückzug der Christen in den Privatbereich und so die Überlassung der Politik in ihrer vermeintlichen Eigengesetzlichkeit. Daraus resultierte, so Troeltsch, vor allen Dingen die gängige Deutung des Staates als von Gott gegebenen Ordnung, ob Diktatur, Monarchie oder Republik, ihr kommt unbedingter Gehorsam zu.

Uwe Siemon-Netto kritisiert an Troeltsch Deutung, dass diese die Komplexität ZRRL nicht durchdringt und unzulässig vereinfacht. So habe Luther einerseits immer propagiert, seine Meinung öffentlich kundzutun (dies also gewaltlos zu tun); wenn aber ein Staatsoberhaupt offenkundig verrückt sei, etwa Gesetze erlasse, die alle möglichen Schandtaten erlauben (vgl. z.B. Magdeburger Bekenntnis), so müsse man sich ihm widersetzen.[8] Damit hat laut Siemon-Netto eine Kette von Missverständnissen der ZRRL begonnen, die Luther nicht gerecht werde.

Diese Tradition des 19. Jahrhunderts führten die Deutschen Christen im Dritten Reich fort: Der NS-Staat ist Gottes gute Ordnung und erhebt totalen Anspruch auf den Menschen (Gogarten). Der Staat dient dem Volk und ist von Gott als Gleichnis des Reiches Gottes zu verstehen. Widerstand gegen diesen ist Verletzung der Majestät Gottes, die die legitime Todesstrafe nach sich ziehen kann (Paul Althaus). In der Geschichte offenbart sich Gott, auch in Form von politischen Ordnungen: Der NS-Staat ist nach Emanuel Hirsch eine solche Gottes-Offenbarung. Ihm ging es wie den anderen beiden Autoren um ein harmonisches Ineinander von Staat (deutsches Volkstum) und Kirche.

Nicht ohne Grund konnte daher Karl Barth eine historische Linie von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Adolf Hitler ziehen[9] und damit die ZRRL kritisieren. Seine Vorstellung von der Königsherrschaft Christi kommt bereits in der zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 vor. Ihm ging es um die Abwehr einer Eigengesetzlichkeit der Politik. Christus ist dagegen Herr über alle Lebensbereiche der Welt, wie im übrigen Luther auch schon mit dem Begriff des weltlichen Regiments konstatiert hat. Allerdings geht Barth von der Vorstellung aus, dass es einen himmlischen, wahren, vollkommenen Staat gibt, von dem Licht auf die irdische Kirche und von dort auf den irdischen, unvollkommenen Staat ausstrahlt. Das menschliche Recht soll sich also am göttlichen orientieren. Somit ist Kirche politisch, weil sie versucht, den irdischen Staat im Sinne des himmlischen umzugestalten.

Deutungen nach 1945

Nach 1945 werden beide politisch-ethischen Programme der ZRRL, also Theologie der Ordnungen und der Königsherrschaft Christi, also die christologische Begründung der politischen Ethik, antithetisch verstanden, wurden sie doch in der zweiten und fünften These der Barmer theologischen Erklärung zusammengedacht, so dass sich sowohl Lutheraner als auch Reformierte einigen konnten. Nur zusammen, das heißt durch die gegenseitige Korrektur beider Theorien, ist es möglich, verantwortlich als Christen im politischen Gemeinwesen zu leben und zu handeln. Wurde als Schwäche der Königsherrschaft Christi die Gefahr der Theokratie ausgemacht, so diagnostizierte man als Schwächen der ZRRL die Trennung von Christ- und Weltperson, aus der sich eine kritiklose Annahme des Bestehenden, ein Rückzug des Christen ins Private und eine allein ihrer Eigensetzlichkeit folgende Politik ergäben. Zusammenfassend lassen sich verschiedene Deutungsmodelle bzw. Akzente in der Interpretation der ZRRL feststellen.

Funktionale Deutung

Vertreter einer funktionalen Deutung der ZRRL sind Althaus und Franz Lau: Durch die starre Unterscheidung in der Tradition des 19. Jahrhunderts zwischen beiden Regimenten unter Ausschluss der eschatologischen Dimension und damit der dichotomischen Trennung von christlicher Innerlichkeit und einem Weltverhalten in Anpassung an die vermeintliche Eigengesetzlichkeit der Politik wird alles als von Gott gegeben hingenommen, Kritik und Widerstand sind nicht mehr möglich. Die Folge ist eine konservativ-quietistische Politik. Christen sind Bürger beider Reiche und unterstehen von Anfang an beiden Regimenten, was aber dem frühen Luther widerspricht. Hier wird der Akzent auf den späten Luther und die Regimentenlehre, also auf die Herrschaftsweisen bzw. die funktional-institutionellen Ordnungen, gelegt.

Personale Deutung

Die Vertreter einer personalen Deutung (zum Beispiel Johannes Heckel) stellen den frühen Luther, bei dem Christen nur Bürger des Reiches Gottes sind, in den Vordergrund. Die Reichelehre, also die personalen Herrschaftsbereiche, liegt im Fokus des Autors. Luther wird so in die Nähe Augustins gerückt, das heißt im Sinne einer Depossedierung der Welt.

Skandinavische Lutherforschung

In der skandinavischen Lutherforschung werden nun den beiden Regimenten, eigentlich im Anschluss an die funktionale Deutung, die Begriffe Erlösung und Schöpfung zugeordnet. Beide Regimente und Reiche werden von außen durch Sünde, Tod und Teufel bedroht. Damit wird Luther in die Nähe der Hochscholastik gerückt, die die Rechte der Welt gegenüber der Transzendenz gestärkt hatte.

Eschatologische Bedrohung

Die eschatologische Bedrohung der beiden Reiche durch ein drittes Reich des Bösen stellt Ulrich Duchrow in den Vordergrund. Dadurch, dass der Mensch Mitstreiter Gottes (cooperator dei) ist, kämpft er als „Werkzeug“ Gottes mit ihm gegen den Teufel.

Fundamentaltheologische Deutung

Gerhard Ebeling interpretierte die ZRRL fundamentaltheologisch. Er sieht die ZRRL in einem Zusammenhang mit dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Coram deo zählt allein die Rechtfertigung und somit Gerechtigkeit aus Glauben und coram mundo allein die Gerechtigkeit der Werke (Handeln).

Martin Honecker schließt sich Ebeling an, ist aber stärker an der sozialethischen Ausrichtung der ZRRL interessiert. In der Vernunft sieht er ein Instrument, um dieser Ausrichtung gerecht zu werden und um sowohl die ZRRL als auch die Königsherrschaft Christi als Modelle christlich-politischer Ethik ständig zu kritisieren. Allerdings bleibt für ihn die ZRRL als Hauptoption gegen das Konzept der Königsherrschaft Christi bestehen.

Verbindung von ZRRL und Barmen

Für eine Verbindung von ZRRL und Barmen II sprachen sich vor allen Dingen Ulrich Duchrow, Wolfgang Huber, Heinz Eduard Tödt und eine Arbeitsgruppe des Kirchenbundes der DDR aus. So wird dem Gebot Gottes eine korrigierende und legitimierende Kraft gegenüber der natürlichen Vernunft zugesprochen.

Zusammenfassung

Es muss also zwischen Luther selbst und den verschiedenen Deutungen seiner ZRRL unterschieden werden. Das heißt konkret: Luthers „Unterscheidung zweier Reiche und Regimente [ist] nicht eigentlich eine ‚Lehre‘ oder gar der Entwurf einer für die evangelische Sache grundsätzlich gültigen politischen Ethik gewesen“, sondern ist von den Interpreten dazu gemacht worden und dient weiterhin zur Legitimation politischer Ethik und staatlichen und kirchlichen Tuns und Lassens. Gegen diesen Missbrauch und für eine klare Trennung der Regimente ist mit Bonhoeffer zu formulieren: „Obrigkeit [weltliches Regiment] und Kirche [göttliches Regiment] sind durch denselben Herrn gebunden und aneinander gebunden. Obrigkeit [äußere Gerechtigkeit: Böse bestrafen und Erziehung zum Guten] und Kirche [Wächteramt] sind in ihrem Auftrag voneinander getrennt. Obrigkeit und Kirche haben denselben Wirkungsbereich, die Menschen. Keines dieser Verhältnisse darf isoliert werden …“ Aus dieser klaren Trennung der Aufträge resultiert die religiöse Neutralität des Staates. Gemeint ist mit Neutralität das regulative Verhalten des Staates den Religionen und Weltanschauungen gegenüber. Natürlich ist jede Entscheidung von Personen bzw. Personenverbänden, auch des Staates, nie neutral. Aber Neutralität des Staates räumt jeder Religion und Weltanschauung die gleichen Rechte und Pflichten im Gemeinwesen ein. Es darf keine Bevorzugung geben. Durch die Unterscheidung, nicht die Trennung, beider göttlicher Regimente im Reich der Welt wird gerade dies gewährleistet. Der Staat hat keine Bevollmächtigung, in den Bereich der Religion bzw. des geistlichen Regimentes einzugreifen.

Einzelnachweise

  1. Luther, WA 11, 229–281
  2. Augsburgische Konfession, Art. XXVIII Von der Bischofen Gewalt. In: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1979, 8. Auflage, ISBN 3-525-52101-4, S. 122.
  3. Melanchthon, vgl. CR 12 Sp. 143
  4. Zwingli, CR 88, S. 458–465.
  5. Auf diesen Umstand macht insbesondere Christofer Frey aufmerksam in seinem Werk Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, ISBN 3-579-01424-2, S. 57.
  6. Christofer Frey: Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart. Gütersloh 1989, ISBN 3-579-01424-2, S. 67.
  7. vgl. Bergholz, Art. Sonntag. In: TRE 31.
  8. Uwe Siemon-Netto: Luther – Lehrmeister des Widerstands. Hrsg.: Fontis. ISBN 978-3-03848-092-1, S. 102 f.
  9. Karl Barth: Eine Schweizer Stimme, 1938–1945. 3. Auflage. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 1985, ISBN 3-290-11573-9.

Quellen

Literatur

  • Paul Althaus: Art. A. Luthers Lehre von den beiden Reichen und B. Zur gegenwärtigen Kritik an Luthers Lehre. In: EKL Bd. 3, Göttingen 1959, S. 1928–1936.
  • Karl Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde. München 1946.
  • Dietrich Bonhoeffer: Theologische Gutachten: Staat und Kirche. In: DBW 16, S. 506–535.
  • Harald Diem: Luthers Lehre von den Zwei Reichen (1938). In: Gerhard Sauter (Hrsg.): Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers. Theologische Bücherei 49, München 1973.
  • Ulrich Duchrow: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre. Stuttgart 1970.
  • Gerhard Ebeling: Die Notwendigkeit der Lehre von den zwei Reichen. In: Wort und Glaube, Bd. 1. Tübingen 1962, S. 407–428.
  • Hans-Joachim Gänssler: Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlass von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente. Wiesbaden 1983.
  • W. Härle: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes. In: Marburger Jahrbuch Theologie I (Marburger theologische Studien, Bd. 22). Marburg 1987, S. 12–32.
  • Johannes Heckel: Art. C. Die Entfaltung der Zwei-Reiche-Lehre als Reichs- und Regimentenlehre. In: EKL Bd. 3, Göttingen 1959, S. 1937–1945.
  • Guido Kisch: Melanchthons Rechts- und Soziallehre. Berlin 1967.
  • F. Lau: Art. Zwei-Reiche-Lehre. In: RGG Bd. 6, 3. Auflage. Tübingen 1962, S. 1945–1949.
  • Wolfgang Lienemann: Art. Zwei-Reiche-Lehre. In: EKL Bd. 4, 3. Auflage. Göttingen 1996, S. 1408–1419.
  • Volker Mantey: Zwei Schwerter, zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund. Tübingen 2005.
  • Gerhard Müller: Luthers Zwei Reiche Lehre in der deutschen Reformation. In: Ders.: Causa Reformationis. Beiträge zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Martin Luthers. Gütersloh 1989, S. 417–437.
  • Joachim Rogge, H. Zeddies (Hrsg.): Kirchengemeinschaft und politische Ethik. Ergebnis eines theologischen Gesprächs zum Verhältnis von Zwei-Reiche-Lehre und der Lehre von der Königsherrschaft Christi. Berlin 1980.
  • Heinz-Horst Schrey (Hrsg.): Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen (= Wege der Forschung 107). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1969.
  • Max Weber: Theorien der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. S. 536–573.
  • G. Zimmermann: Die Zwei-Reiche-Lehre bei John Locke. In: ZEE 34/90, S. 206–217.