Türkengefahr

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Der Ausdruck Türkengefahr bezeichnet das während des 15. – 17. Jahrhundert in den europäischen Medien verbreitete Schreckbild des expandierenden Osmanischen Reiches.

Den historischen Auslöser der programmatischen antitürkischen Propaganda bildete der Fall Konstantinopels im Jahr 1453.

Die osmanische Expansion erfolgte unter den schrecklichen Umständen, die zur damaligen Zeit auf allen kriegführenden Seiten üblich waren. Dennoch nahm man im Abendland im allgemeinen keine Notiz von den sich abzeichnenden politischen Veränderungen. So erfolgte zunächst ein nahezu unbemerktes Einsickern der osmanischen Herrschaft in die europäische Herrschaftssphäre. Christen (und Juden) erfuhren unter osmanischer Herrschaft eine weitgehende Toleranz. Die steuerliche Finanzlast der christlichen Landbevölkerung an den Sultan war zunächst deutlich niedriger als der vergleichsweise hohe – und materiell zu entrichtende - Tribut an den christlichen Adel. Diese günstigen osmanischen Verhältnisse sowie eine offenkundig lose Verbindung zum Christentum bewirkten anfänglich scharenweise Abwanderungen in den osmanischen Herrschaftsbereich und Konversionen christlicher Bevölkerungsteile zum Islam. Kriegsgefangene schworen dem christlichen Glauben ab und begannen Karrieren im Islam. Ganze zur Verteidigung gegen die Osmanen eingesetzte Festungsmannschaften desertierten und selbst Mönche wurden zu „Abtrünnigen“.

Mittels einer geschickten Nationalitätenpolitik vermochte der Sultan durch die Integration konvertierter Beamter seine Herrschaft in den vormals christlichen Gebieten zu etablieren und auszubauen. 1453-1623 regierten unter den 48 Großwesiren mindestens 33 Konvertiten (Delumeau 399)

Von Korsika, Sardinien, Sizilien, Kalabrien, Genua, Venedig, Spanien, von allen Gegenden des Mittelmeerraumes sind Renegaten dem Islam zugelaufen. Umgekehrt nichts dergleichen. Vielleicht unbewußt öffnet der Türke seine Tore und der Christ verschließt die seinen. Die christliche Intoleranz, aus der Überzahl geboren, spricht die Menschen nicht an; sie stößt sie ab (...). Alles bricht auf zum Islam, wo Stellungen und Gewinne warten. (Atkinson, Nouveaux horizons, 243-245 zit. bei Delumeau 400).

Die Einstellung der Venezianer gegenüber den Osmanen war zwiespältig. Die mit der Renaissance einher gehende Horizonterweiterung weckte das Interesse an den fernen Ländern, das sich vielfach in künstlerischen Produktionen niederschlug (siehe Orientalismus). Die beginnende ethnografische Reiseliteratur zeichnet ein vergleichsweise objektives von Achtung geprägtes Bild der osmanischen Kultur. „Sultan Soliman sei der Großzügigkeit und der Religion zugetan “ (Paolo Giovi), „was burgerliche Gerechtigkeit antrifft/soltu wissen das sie streng sind, etliche Laster zu strafen “ (Münsters Cosmographia) „friedliche Menschen “ (Pierre Belon).

Ein allgemeines Bewusstsein um eine türkische Bedrohung in Gestalt einer "Türkenfurcht" existierte also zunächst nicht. Selbst der französische König Franz I. verständigte sich mit den Osmanen in der Absicht, die Habsburger anzugreifen. Allein die römische Kirche sah sich in ihren vitalen Interessen bedroht. Doch ihre Forderungen nach einer Kreuzzugssteuer gegen die Türken stießen zunächst auf weitgehende Ablehnung (z.B. Spanien). Hilfeersuchen der von osmanischen Übergriffen christlichen Nationen wie Ungarn wurden ignoriert. ‚‘Wer in Europa nicht direkt von der Türkengefahr betroffen war, blieb unbeeindruckt (M. P. Gilmore bei Delumeau 402). Besonders Pius II. beklagte resigniert das Bild der europäischen Zerrissenheit angesichts der wachsenden osmanischen Macht:

Wir aber liegen in tiefem Schlafe....unter uns selbst können wir kämpfen, nur die Türken lassen wir schalten und walten. Um kleiner Ursachen willen ergreifen Christen die Waffen und schlagen blutige Schlachten, gegen die Türken, die unseren Gott lästern, unsere Kirchen zerstören, den christlichen Namen ganz auszurotten trachten, will niemand die Hand erheben.

Allmählich erkannten führende abendländische geistige Kräfte die osmanische Kultur als kulturell ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen und erkannten scharfsinnig eine ernsthafte Bedrohung, gegen die Persönlichkeiten wie Montaigne warnend die Stimme erhoben. Diese Erwägungen blieben freilich akademisch; die Bevölkerung wurde durch sie nicht erreicht.

Insofern bildete die Kirche das den Umständen der Zeit angemessene und obendrein einzige Medium, effektiv die Massen zu erreichen und ein Bedrohungsgefühl vor den Türken zu erzeugen. Visuell in Gestalt von Bildern oder Karikaturen, akustisch im Glockengeläut und ideologisch durch Predigten, Gebete, Messen „contra turcos “, Flugschriften etc. Mittels des neu entstandene Buchdrucks wurden den Schrecken ausmalende Türkenschriften in weiten Kreisen verbreitet, wobei man die türkischen Gräueltaten zu apokalyptischer Größe als Geißel Gottes oder zum Vorzeichen des Weltendes emporstilisierte. Bei der antitürkischen Propaganda taten sich besonders Jesuiten und Kapuziner hervor. Damit suchte man die Bevölkerung aus ihrer „Trägheit“ (Delumeau) zu reißen, moralisch mobil zu machen und somit die Bereitschaft zu finanziellen Opfern wie auch zur persönlichen Beteiligung am Glaubenskrieg zu wecken.

Dabei nutzte man auch Mittel bewusster Täuschung. In den Absagebriefen schuf man fingierte Kriegserklärungen des Sultans gegen die Christen, die von allen Kanzeln verlesen wurden. (Siehe Medienmanipulation)

Die Schutzmantelmadonna zertritt das Mondsichelsymbol

Papst Calixt II. verordnete ein allgemeines tägliches Angelusgebet gegen die Türken. In Deutschland alarmierten auf Geheiß Karl V. allmittäglich zu läutenden Türkenglocken gleichermaßen Katholiken wie Protestanten. 1571 erließ Pius V. ein Ablassjahr zur Unterstützung der christlichen Flotte gegen den Sultan. Nach dem Sieg bei Lepanto setzte er das Fest Unserer Heiligen Frau der Siege (Rosenkranzfest) ein, das den Marienkult in besonderer Weise begründete. Eine besondere antitürkische Note verliehen dabei die symbolisch die Mondsichel zertretenden Mondsichelmadonnen. Zahlreiche triumphale Epinikien (Siegeslieder) wurden verbreitet. Architektonisch fand der Triumph in der Errichtung von Türkentoren Niederschlag.

Auf protestantischer Seite erkannte man wohl weiterhin die Hauptgefahr in der Papstkirche. Luther sah ein Leben unter dem Sultan erträglicher an als eines unter dem Papst. Dennoch unterschätzte man das türkische Drohpotenzial nicht und beteiligte sich solidarisch an der Polemik gegen die Türken.

Eine barbarische Rasse unbekannter Herkunft, wie viele Massaker haben sie nicht schon unterm Christenvolk angerichtet? Wie viele Städte, wie viele Inseln, wie viele Provinzen haben sie nicht schon dem christlichen Machbereich entrissen? ...[so] ist zu fürchten... dass es zur raschen Besetzung der restlichen christlichen Welt kommt. (Erasmus 1530). Erasmus behauptete weiter, dass Gott „uns die Türken schickt, wie ehemals den Ägyptern die Frösche, Stechmücken und Heuschrecken“, „wenn es uns gelingen soll uns aus dem türkischen Würgegriff zu befreien, müssen wir, bevor wir die abscheuliche Türkenrasse vernichten, aus unseren Herzen Geiz, Ehrgeiz Herrschsucht, gutes Gewissen, Sinn für Ausschweifungen, Wollust, Hass und Begierde verbannen.

Auch Luther erregte mit seinen Türkenschriften Aufsehen. In seiner Vermahnung zum Gebet wider den Türcken ruft er zur allgemeine Buße: es stehet und geht fast wie fur der Sintflut. Gene 6. „Gott sahe auff Erden und siehe, sie war verderbet . Er sieht Türke. Papst und Teufel als eine die Christenheit bedrohende höllische Vereinigung.

Und wenn ir nun wider den Türcken zihet, so seid ja gewis und zweivelt nichts daran, das ir nicht wider fleisch und blut, das ist wider Menschen streitet... Sondern seid gewis, das ir wider ein groos heer Teuffel streitet .
Die Türken sind, gleich den Juden, halsstarrig und verstockt... das türkische Reich, so groß es immer sein kann, ist nichts, denn nur allein Brocken Brodes... die Christen... haben...die Verheißung Gottes, so uns im Sohne Gottes geoffenbaret ist, da die Türken iren stinkenden Alkoran, ire Siege und zeitliche Gewalt haben, worauf sie sich verlassen .

Eine Beteiligung an einem geplanten Kreuzzug gegen die Türken lehnte Luther als „Bereicherungsstreben“ ab.

Mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts erlosch das öffentliche Bewusstsein von einer quasi globalen Türkengefahr und machte dem Gedanken des abzuschüttelnden Türkenjochs Platz. Ehemalige osmanisch besetzte Länder besannen sich auf ihre eigene nationale Identität und setzten auf den Befreiungskampf, vom verfallenden Osmanenreich sprach man nur mehr abfällig als von Kranken Mann am Bosporus.

Die öffentliche Rede von einer Türkengefahr gehört der Vergangenheit an. Von einem normalen Verhältnis zwischen der Türkei und den anderen europäischen Ländern kann indes noch nicht die Rede sein. Latente antitürkische Ressentiments sehen Kritiker in dem Gedanken der privilegierten Partnerschaft bestimmter konservativer Politiker im Rahmen der europäischen Integration.

Siehe auch

Literatur

Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa das 14. bis. 18. Jahrhundert