„Landerziehungsheim Walkemühle“ – Versionsunterschied

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
[gesichtete Version][gesichtete Version]
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Keine Bearbeitungszusammenfassung
K noch ein "s"
Zeile 35: Zeile 35:
Heckmann weist ausdrücklich daraufhin, dass diese Prinzipien sowohl für die Walkemühle leitend waren, als auch für die beiden Nachfolgeeinrichtungen. Sie gehen zurück auf Nelsons Anknüpfen an die Philosophie von [[Immanuel Kant]] und [[Jakob Friedrich Fries]] und grenzen sich in ihrem Bemühen um eine Erziehung zur vernünftigen Selbstbestimmung bei gleichzeitigem Beharren an festen ethischen Normen von anderen zeitgenössischen pädagogischen Strömungen ab, besonders aber von [[Alexander Sutherland Neill|A. S. Neill]].<ref>Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 37</ref> Ihm, dem sie unterstellte, moralische Normen zu negieren und zu meinen, alleine das sich freie Entwickeln eines Kindes sei Voraussetzung genug, um ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, hält Minna Specht 1936 entgegen: {{Zitat|Those however, who do not share this optimistic belief are faced with the task of finding a new ethical foundation and a new education built upon this, free from authority. I am one of those who have chosen this way, facing all the difficulties which are involved.<ref>Minna Specht, zitiert nach Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 37-38</ref>}}
Heckmann weist ausdrücklich daraufhin, dass diese Prinzipien sowohl für die Walkemühle leitend waren, als auch für die beiden Nachfolgeeinrichtungen. Sie gehen zurück auf Nelsons Anknüpfen an die Philosophie von [[Immanuel Kant]] und [[Jakob Friedrich Fries]] und grenzen sich in ihrem Bemühen um eine Erziehung zur vernünftigen Selbstbestimmung bei gleichzeitigem Beharren an festen ethischen Normen von anderen zeitgenössischen pädagogischen Strömungen ab, besonders aber von [[Alexander Sutherland Neill|A. S. Neill]].<ref>Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 37</ref> Ihm, dem sie unterstellte, moralische Normen zu negieren und zu meinen, alleine das sich freie Entwickeln eines Kindes sei Voraussetzung genug, um ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, hält Minna Specht 1936 entgegen: {{Zitat|Those however, who do not share this optimistic belief are faced with the task of finding a new ethical foundation and a new education built upon this, free from authority. I am one of those who have chosen this way, facing all the difficulties which are involved.<ref>Minna Specht, zitiert nach Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 37-38</ref>}}


Der theoretische Überbau ist das Eine, der praktische Schulalltag das Andere. Dass das Leben in der Walkemühle für die Kinder auch spannend und unterhaltsam gewesen ist, belegen die vielen Erfahrungsberichte, die Rudolf Giesselmann zusammengetragen hat. Er dokumentiert zudem sehr detailreich – gestützt auf Berichte ehemaliger Schülerinnen und Schüler und deren Erzieherinnen und Erzieher sowie einer Vielzahl von Dokumenten und Bildern – die Tagesabläufe in der Walkemühle und die Unterrichtsverläufe.<ref>Rudolf Giesselmann: ''Geschichten von der Walkemühle'', insbesondere die Abschnitte 10 bis 19.</ref> Vergleichbar materialreich dokumentiert Nielsen den Schulalltag für die Jahre in Dänemark und läßt so die durch das Exil nicht unterbrochene Kontinuität der pädagogichen Arbeit deutlich werden.
Der theoretische Überbau ist das Eine, der praktische Schulalltag das Andere. Dass das Leben in der Walkemühle für die Kinder auch spannend und unterhaltsam gewesen ist, belegen die vielen Erfahrungsberichte, die Rudolf Giesselmann zusammengetragen hat. Er dokumentiert zudem sehr detailreich – gestützt auf Berichte ehemaliger Schülerinnen und Schüler und deren Erzieherinnen und Erzieher sowie einer Vielzahl von Dokumenten und Bildern – die Tagesabläufe in der Walkemühle und die Unterrichtsverläufe.<ref>Rudolf Giesselmann: ''Geschichten von der Walkemühle'', insbesondere die Abschnitte 10 bis 19.</ref> Vergleichbar materialreich dokumentiert Nielsen den Schulalltag für die Jahre in Dänemark und läßt so die durch das Exil nicht unterbrochene Kontinuität der pädagogischen Arbeit deutlich werden.


Nach Nielsen hat sich Minna Specht im Herbst 1932 entschieden, ihre politische Arbeit für den ISK und den ihm nahestehenden Einrichtungen zu reduzieren und sich stärker der pädagogischen Arbeit zu widmen. Angesichts des erstarkenden Faschismus sah sie sich vor die Wahl gestellt, Politikerin oder Pädagogin zu bleiben. Beides zugleich schien ihr nicht möglich, und sie plädierte auch dafür, die pädagogische Arbeit nicht durch die politische Arbeit zu gefährden - ein Prinzip, das sie weitgehend auch im Exil aufrecht hielt.<ref>Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 40</ref> Das Bestehen der Schule sollte durch politische Aktivitäten nicht gefährdet werden. Das schloß nicht aus, dass ISK-Aktivisten später in Dänemark die Schule gelegentlich besuchten (zumal ihre Kinder ja teilweise hier lebten), doch war die Schule zu keiner Zeit eine Art Kommandozentrale für die illegale Arbeit des ISK in Deutschland oder ein Rückzugsort für verfolgte ISK-Aktivisten. Umgekehrt hieß dies aber nicht, dass die Schule durch die Betonung des Primats der Pädagogik unpolitisch geworden wäre. Ihr war, wie es Gutstav Heckmann rückblickend formulierte, eine politische Haltung zu eigen, ohne politisch tätig zu sein: {{Zitat|Die Schule war keine Hilfsstation im Dienste der illegalen Widerstandsarbeit in Deutschland, aber sie war, gemäß der Überzeugung Nelsons und der Überzeugung der Lehrer der Schule, dem Kampf der Arbeiterschaft um den Sozialismus verbunden – Sozialismus hier verstanden als eine Gesellschaft ohne Ausbeutung einer Klasse durch eine andere.<ref>Gustav Heckmann, zitiert nach Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 43</ref>}}
Nach Nielsen hat sich Minna Specht im Herbst 1932 entschieden, ihre politische Arbeit für den ISK und den ihm nahestehenden Einrichtungen zu reduzieren und sich stärker der pädagogischen Arbeit zu widmen. Angesichts des erstarkenden Faschismus sah sie sich vor die Wahl gestellt, Politikerin oder Pädagogin zu bleiben. Beides zugleich schien ihr nicht möglich, und sie plädierte auch dafür, die pädagogische Arbeit nicht durch die politische Arbeit zu gefährden - ein Prinzip, das sie weitgehend auch im Exil aufrecht hielt.<ref>Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 40</ref> Das Bestehen der Schule sollte durch politische Aktivitäten nicht gefährdet werden. Das schloß nicht aus, dass ISK-Aktivisten später in Dänemark die Schule gelegentlich besuchten (zumal ihre Kinder ja teilweise hier lebten), doch war die Schule zu keiner Zeit eine Art Kommandozentrale für die illegale Arbeit des ISK in Deutschland oder ein Rückzugsort für verfolgte ISK-Aktivisten. Umgekehrt hieß dies aber nicht, dass die Schule durch die Betonung des Primats der Pädagogik unpolitisch geworden wäre. Ihr war, wie es Gutstav Heckmann rückblickend formulierte, eine politische Haltung zu eigen, ohne politisch tätig zu sein: {{Zitat|Die Schule war keine Hilfsstation im Dienste der illegalen Widerstandsarbeit in Deutschland, aber sie war, gemäß der Überzeugung Nelsons und der Überzeugung der Lehrer der Schule, dem Kampf der Arbeiterschaft um den Sozialismus verbunden – Sozialismus hier verstanden als eine Gesellschaft ohne Ausbeutung einer Klasse durch eine andere.<ref>Gustav Heckmann, zitiert nach Birgit S. Nielsen: ''Erziehung zum Selbstvertrauen'', S. 43</ref>}}

Version vom 6. Februar 2016, 15:43 Uhr

Das Landerziehungsheim Walkemühle wurde von 1921 an von dem Lehrer und Reformpädagogen Ludwig Wunder in Adelshausen (Melsungen) aufgebaut. Nach dessen Ausscheiden aus der Einrichtung wurde 1924 unter der Leitung von Minna Specht der Betrieb des Landerziehungsheims aufgenommen, dessen pädagogische Konzeption geprägt war von der Philosophie Leonard Nelsons.

Die deutschen Jahre

Die Gründung des Landerziehungsheims Walkemühle

1921 kaufte der Lehrer Ludwig Wunder die Walkemühle in Adelshausen (Melsungen)Welt-Icon, um dort ein Landerziehungsheim zu errichten.[1] Wunder war ein Mitarbeiter von Hermann Lietz gewesen. Er war Lehrer auf Schloss Bieberstein und nach dem Tod von Lietz Leiter des Landerziehungsheims in Haubinda. Dort hatte er die Lehrerin Minna Specht kennengelernt, über die er in Kontakt zu Leonard Nelson kam.

Leonard Nelson

Wunder besuchte Vorlesungen des Philosophen Nelson an der Universität Göttingen und identifizierte sich stark mit dessen Theorien. Nelson selber trug sich ebenfalls mit der Idee einer Schulgründung, die primär die Schulungsarbeit des von ihm initiierten „Internationalen Jugendbund (IJB)“[2] fördern sollte. Zur Finanzierung dieser Schule wurde am 1. Dezember 1918 die „Gesellschaft der Freunde der Philosophisch-Politischen Akademie“ (GFA) gegründet, ohne dass es in der Folge zu einer Schul- bzw. Akademiegründung kam.

Die philosophisch-politische Übereinstimmung zwischen Wunder und Nelson und Nelsons Möglichkeit, Gelder für den weiteren Ausbau der Walkemühle zur Verfügung stellen zu können[3], führte 1922 zu einer Zusammenarbeit, und Ende des Jahres trafen die ersten Anhänger Nelsons in der Walkemühle ein, um dort noch vorbereitende Arbeiten bis zur geplanten Eröffnung des Landerziehungsheimes Walkemühle im Frühjahr 1924 auszuführen.

1923 war für Wunder und für die Lehrerin Julie Pohlmann[4] ein „Unterrichtserlaubnisschein“ ausgestellt worden. Dem folgte im März 1924 der Antrag beim Kreisschulrat in Melsungen, für die Oberlehrerin Specht einen weiteren Erlaubnisschein auszustellen und zugleich die Erlaubnis zum Unterrichten schulpflichtiger Kinder zu erteilen. Stattdessen traf am 23. April in der Walkemühle eine Verfügung des Kreisschulrats ein, mit der dem Antragsteller der Unterricht mit Zöglingen im schulpflichtigen Alter untersagt wurde. Wunder wandte sich daraufhin an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin und erhielt von dort im August 1924 die Genehmigung zur Aufnahme des Schulbetriebs. Nachdem die Genehmigung erteilt war, kam es zum Streit zwischen Wunder und Nelson. Dessen Hintergründe sind nicht geklärt, doch Wunder verließ daraufhin die Walkemühle noch im November 1924. Leiterin des Landerziehungsheimes war fortan Minna Specht.[5]

Die Walkemühle war fortan eine zweigliedrige Einrichtung: Es gab die Erwachsenenabteilung, die Philosophisch-Politischen Akademie[6], die die Funktionärsschulung des ISK betrieb, und es gab die Kinderabteilung. Obwohl sich diese beiden Schulen unter einem Dach befanden, wurden sie von unterschiedlichen Prinzipien geleitet. „Jede Schule hatte ihre Zweckbestimmung, und es bestand keine Arbeitsgemeinschaft zwischen ihnen.“[7] Nielsen geht gar davon aus, dass die Kinderabteilung im Schatten der Erwachsenenabteilung stand.

Erwachsenenbildung in der Walkemühle

Die Erwachsenbenabteilung der Walkemühle war eine Kaderschule des ISK und des IJB.

„Als Vorbereitung auf die Gründung einer „Partei der Vernunft“ hatte der IJB vor allem politische Erziehungsarbeit zu leisten. Sie vollzog sich durch Ausbildung eines kleinen ausgewählten Kreises von Personen, die sich strengen Regeln unterwerfen mußten (Verzicht auf Alkohol und Nikotin, Verpflichtung zu Vegetarismus und Kirchenaustritt). Diese Bedingungen wurden als Voraussetzung für die Entwicklung charakterlicher Stärke und geistiger Unabhängigkeit für notwendig erachtet, knüpften allerdings hinsichtlich der Abstinenzforderungen auch an Traditionen der Jugendbewegung an. Das Vegetarismus-Gebot leitete sich direkt aus Nelsons Ethik ab, die auch Tiere als Rechtssubjekte ansah und ihre Herabwürdigung zu Genußzwecken für den Menschen untersagte. Mit der Verpflichtung zum Kirchenaustritt sollte der Autoritätsanspruch der Kirchen und deren Einfluß auf die Politik bekämpft werden.[8]

Die an sich schon strengen Regeln, die auch die Hierarchisierung der Mitglieder in einen inneren und einen äußeren Kreis und, damit verbunden, die ständige Statusüberprüfung beinhalteten, wurden ab 1923/24 noch rigider.

„Die Mitgliedschaft wurde weiter eingeschränkt, für den engeren Funktionärskreis trat die Zölibatsforderung hinzu. Die damit zutage tretenden ordensmäßigen Strukturen waren von Nelson durchaus erwünscht, sie unterstrichen den Charakter als „Erziehungs- und Gesinnungsgemeinschaft“ nach außen. Über die Eignung der Mitglieder wurden Akten angelegt, zu den Diskussionen auf Kursen und Tagungen ausführliche Berichte und Protokolle verfaßt.[9]

Was hier nach Askese und totale Unterwerfung klingt, war eingebunden in ein pädagogisches Konzept, das die Schüler befähigen sollte, „in Gemeinschaft selbständig logisch zu denken. Der Lehrer durfte nicht mit seinem eigenen Urteil eingreifen.“[10] Grundlage hierfür war die von Nelson wiederentdeckte und weiterentwickelte sokratische Methode, die die wichtigste Methode für die Unterrichtsarbeit mit den erwachsenen Kursteilnehmern in der Walkemühle war.

„Die sokratische Methode gründet sich auf das Vertrauen in die Vernunft der Menschen, in ihre Fähigkeit, durch intensives gemeinsames Nachdenken philosophische und mathematische Wahrheiten zu erkennen. Diese Methode wird verwirklicht in Gesprächen, in denen man zunächst gemeinsam zu Urteilen über Einzelfälle kommt und diese Urteile dann auf ihre Voraussetzungen zurückführt (die regressive Methode der Abstraktion).[11]

Auf der Basis dieser Vorstellungen sollten in der Walkemühle die Funktionäre des ISK als politische Führer ausgebildet werden.[12] Zielgruppe waren Jugendliche zwischen 17 und 20 Jahren, die in dreijährigen Kursen ausgebildet werden sollten. Ihre Erztiehung zur Willensstärke und die Herausbildung ihrer organisatorischen Fähigkeiten ging einher mit der Teilnahme an den zum Betrieb der Walkemühle notwendigen praktischen Arbeiten in den Werkstätten und bei der Haus- und Gartenarbeit. Hinzu kamen Exkursionen in die Arbeitswelt.[13] Im Herbst 1931, als die Erwachsenenabteilung der Walkemühle geschlossen wurde, hatten nach siebeneinhalbjährigem Bestehen der Schule etwa 30 Schüler diese Ausbildung durchlaufen. Sie siedelten nun zusammen mit den Lehrenden nach Berlin über, um sich dort dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Nationalsozialisten zu widmen. Die Kinderabteilung blieb weiterhin in der Walkemühle.

Kindergarten und Schule

Die Kinderabteilung der Walkemühle verfügte über eine von Lieselotte Wettig[14] geleitete Kindergartengruppe und über mehrere Gruppen schulpflichtiger Kinder, die anfangs von Julie Pohlmann[15], Hans Lewinski[16] und anderen geleitet wurden, später auch von Minna Specht selber.

Für die Schule charakteristisch war – wie auch für die Erwachsenenabteilung – das Primat eines einfachen Lebens, das für die Erzieherinnen und Erzieher ebenso galt wie für die Schülerinnen und Schüler. Daran wurde nicht nur aus finanziellen Gründen festgehalten, sondern aus pädagogisch-prinzipiellen:

„Die Kinder sollten frühzeitig lernen, daß es schwer ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Man nahm Kinder ohne Rücksicht auf Rasse, Klasse oder Nationalität auf, sowohl Mädchen wie Jungen, und im Gegensatz zu manchen anderen Privatschulen war es Nelson und Minna Specht wichtig, nicht nur Kinder wohlhabender Eltern aufzunehmen, sondern auch Arbeiterkinder. Die besonderen wirtschaftlichen Verhältnisse der Schule und die sparsame Lebensweise haben das ermöglicht.[17]

Pädagogisches Leitziel der Schule war das Bemühen, den Kindern die Möglichkeit zur freien Entfaltung ihrer sittlichen, geistigen und ästhetischen Kräfte zu gewähren. Dies sollte geschehen durch die Vermeidung jeglicher Bevormundung.[18] Gustav Heckmann,

Gustav Heckmann

der 1933 mit Minna Specht und einem Teil der Kinder ins dänische Exil ging, beschrieb 1981 rückblickend Nelsons die Schule leitenden Erziehungsvorstellungen:

„Sie [die Schule] solle eine Freistatt sein, in der ursprünglich im Menschen vohandene Vernunftkräfte gegen Einflüsse aus unserer Klassengesellschaft, die diese Kräfte schädigen, geschützt werden sollten. Die Menschen würden sich dann bewahren, was sie als unverdorbene Kinder mitbringen: Glauben an die Wahrheit, Selbstvertrauen und Rechtsgefühl, wie diese sich äußern in Mut und Beharrlichkeit beim Vertreten der eigenen Überzeugung.[19]

Heckmann weist ausdrücklich daraufhin, dass diese Prinzipien sowohl für die Walkemühle leitend waren, als auch für die beiden Nachfolgeeinrichtungen. Sie gehen zurück auf Nelsons Anknüpfen an die Philosophie von Immanuel Kant und Jakob Friedrich Fries und grenzen sich in ihrem Bemühen um eine Erziehung zur vernünftigen Selbstbestimmung bei gleichzeitigem Beharren an festen ethischen Normen von anderen zeitgenössischen pädagogischen Strömungen ab, besonders aber von A. S. Neill.[20] Ihm, dem sie unterstellte, moralische Normen zu negieren und zu meinen, alleine das sich freie Entwickeln eines Kindes sei Voraussetzung genug, um ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, hält Minna Specht 1936 entgegen:

„Those however, who do not share this optimistic belief are faced with the task of finding a new ethical foundation and a new education built upon this, free from authority. I am one of those who have chosen this way, facing all the difficulties which are involved.[21]

Der theoretische Überbau ist das Eine, der praktische Schulalltag das Andere. Dass das Leben in der Walkemühle für die Kinder auch spannend und unterhaltsam gewesen ist, belegen die vielen Erfahrungsberichte, die Rudolf Giesselmann zusammengetragen hat. Er dokumentiert zudem sehr detailreich – gestützt auf Berichte ehemaliger Schülerinnen und Schüler und deren Erzieherinnen und Erzieher sowie einer Vielzahl von Dokumenten und Bildern – die Tagesabläufe in der Walkemühle und die Unterrichtsverläufe.[22] Vergleichbar materialreich dokumentiert Nielsen den Schulalltag für die Jahre in Dänemark und läßt so die durch das Exil nicht unterbrochene Kontinuität der pädagogischen Arbeit deutlich werden.

Nach Nielsen hat sich Minna Specht im Herbst 1932 entschieden, ihre politische Arbeit für den ISK und den ihm nahestehenden Einrichtungen zu reduzieren und sich stärker der pädagogischen Arbeit zu widmen. Angesichts des erstarkenden Faschismus sah sie sich vor die Wahl gestellt, Politikerin oder Pädagogin zu bleiben. Beides zugleich schien ihr nicht möglich, und sie plädierte auch dafür, die pädagogische Arbeit nicht durch die politische Arbeit zu gefährden - ein Prinzip, das sie weitgehend auch im Exil aufrecht hielt.[23] Das Bestehen der Schule sollte durch politische Aktivitäten nicht gefährdet werden. Das schloß nicht aus, dass ISK-Aktivisten später in Dänemark die Schule gelegentlich besuchten (zumal ihre Kinder ja teilweise hier lebten), doch war die Schule zu keiner Zeit eine Art Kommandozentrale für die illegale Arbeit des ISK in Deutschland oder ein Rückzugsort für verfolgte ISK-Aktivisten. Umgekehrt hieß dies aber nicht, dass die Schule durch die Betonung des Primats der Pädagogik unpolitisch geworden wäre. Ihr war, wie es Gutstav Heckmann rückblickend formulierte, eine politische Haltung zu eigen, ohne politisch tätig zu sein:

„Die Schule war keine Hilfsstation im Dienste der illegalen Widerstandsarbeit in Deutschland, aber sie war, gemäß der Überzeugung Nelsons und der Überzeugung der Lehrer der Schule, dem Kampf der Arbeiterschaft um den Sozialismus verbunden – Sozialismus hier verstanden als eine Gesellschaft ohne Ausbeutung einer Klasse durch eine andere.[24]

Das Ende des Landerziehungsheims Walkemühle

Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt; am 3. März fand in der Walkemühle die erste Haussuchung statt.[25] Danach wurden die Kinder zu ihren Eltern zurückgeschickt oder, wenn das nicht so schnell möglich war, provisorisch außerhalb der Walkemühle untergebracht. Am 14. März fand die zweite Hausdurchsuchung statt, und am gleichen Tag beantragte der Melsunger Landrat beim Regierungspräsidenten in Kassel die Schließung der Walkemühle. Diese erfolgte zwei Wochen später, am 29. März 1933, durch Erlass des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin. Danach erfolgte die entschädigungslose, zweifache Enteignung der Walkemühle: eine faktische durch die SA kurz nach der Schließung und eine juristisch abgesegnete im April 1934. Die Walkemühle war fortan eine Amtswalter- und SA-Führerschule des NSDAP-Gaus Kurhessen. Giesselmann zitiert zahlreiche Berichte, die belegen, dass in den Kellern der Walkemühle zahlreiche „Schutzhäftlinge“ aus dem Raum Melsungen eingesperrt, misshandelt und gefoltert wurden.

Auf dem Gelände der Walkemühle befanden sich auch drei Grabstätten: die von Leonard Nelson, die seines Vaters Heinrich Nelson und die von Erich Graupe.[26]

„Den Nazis war es nach '33 unerträglich, dass so ganz nah bei nun ihrer Walkemühle sich immer noch zwei Juden befanden, wenn auch schon tot und begraben, sowie im dritten Grab „ein Kommunist“. Das ließ ihnen keine Ruhe. Sie änderten diese Situation bald und sprachen dabei von „Umbettung“, aber dann nahmen sie es doch nicht so genau. Die Urne und den Grabstein von Erich Graupe, „dem Kommunisten“, fand Willi Schaper, ehemaliger Helfer der Walkemühle, dann „im Dreck des Schutthaufens von Adelshausen“. Den Skeletten der beiden Nelsons, so gab es ein hartnäckiges Gerücht, brach ein Beteiligter bei der „Umbettung“ die Goldzähne heraus, wofür er eine Kraft-durch-Freude-Reise bekam. Wo die Skelette heute liegen, weiß niemand genau, offiziell kamen sie auf den Judenfriedhof von Melsungen. Sicher ist nur, dass man dorthin die Grabsteine von Leonard und Heinrich Nelson geschafft hatte.[27]

Die Walkemühle wurde 1945 kurz vor Kriegsende von der NSDAP abgebrannt. Sie wurde später als Fabrikgebäude wieder aufgebaut.

Exil in Dänemark

Neugründung in Möllevangen

Während der Hausdurchsuchungen durch die SA im März 1933 kam aus dem Kreis der Kinder die Frage, was aus ihnen würde, wenn ihnen die Schule weggenommen würde. Ihre spontane Reaktion auf diese Frage hat Minna Specht zwei Jahre später folgendermaßen beschrieben:

„It just occured to me, when the children asked their questions, that we might go to Denmark. It was the mere desire to help the children who were troubled. But the excitement and enthusiasm of the children turned this desire into a purpose, and I made up my mind to build up a new world for them if the old one should crumble away.[28]

Auch wenn dahinter noch kein konkreter Plan gestanden haben sollte und Dänemark nicht aus politischen Gründen als Exilland in den Fokus rückte[29]: die Umsetzung des Vorhabens wurde unverzüglich in Angriff genommen. Heckmann, der zuvor in der Erwachsenenabteilung der Walkemühle unterrichtet hatte und zwischenzeitlich wieder in den preußischen Schuldienst zurückgekehrt war, hatte im Frühsommer 1933 Kontakt zu Hermann Roos aufgenommen, der bereits den Aufbau der Walkemnühle finanziell unterstützt hatte. Von Roos und einem schweizer Freundeskreis kam abermals die Zusicherung einer finanziellen Unterstützung, und darauf gestützt stellte Heckmann, der in den Sommerferien 1933 nach Dänmerk gereist war, am 22. Juli 1933 beim dänischen Justizministerium den Antrag, die Walkemühle als Schule in Dänemark mit drei Lehrern und etwa 20 Kindern fortführen zu dürfen.[30]

Die wichtigsten Vorbereitungsarbeiten für den Umzug der Schule wurden nach Nielsen[31] von Minna Spechts alter Freundin Maria Saran ausgeführt, die Anfang 1933 zwar nach London emigriert war, im Mai aber nach Dänemark ging, um dort die Möglichkeiten für eine Fortführung der Schule zu klären und voranzutreiben. Dabei kam ihr zugute, dass sie selber die dänische Sprache beherrschte. In Übereinstimmung mit Heckmann miete sie ein Sommerhaus in Möllevangen Welt-Icon bei Fredriksvaerk. Im August kam Minna Specht nach Dänemark, und bis zur Abreise Maria Sarans im Oktober erledigten die beiden Frauen eine Vielzahl praktischer Arbeiten, um die Aufnahme des Schulbetriebs vorzubereiten. Minna Specht lernte Dänisch und mit 54 Jahren Fahrradfahren.

Liselotte Wettig, auch schon an der Walkemühle als Lehrerin in der Kinderabteilung tätig und inzwischen zum Studium nach Wien gegangen, wurde von Minna Specht zur Mitarbeit in Dänemark aufgefordert. Sie sagte zu und reiste über Zürich, wo sie acht ehemalige Walkemühle-Kinder abholte und nach Dänemark mitnahm. Was fehlte, war die Genehmigung der dänischen Behörden. Diese wurde nach vielen persönlichen Interventionen und dem Nachweis von Referenzen am 10. Februar 1934 erteilt. Das Justizministerium erteilte die Erlaubnis für die Beschäftigung von drei deutschen Lehrern, zwei Helfern und zur Aufnahme von etwa 20 Schülerinnen und Schülern. Ausdrücklich wurde in der Genehmigung darauf hingewiesen, dass die Kinder keinen festen Aufenthalt in Dänemark zu erwarten hätten und keine Erwerbstätigkeit nach ihrem Schulabschluss aufnehmen dürfen.[32]

Die 1909 geborene Charlotte Sonntag, die 1945 Gustav Heckmann heiratete, besuchte Ende 1934 zusammen mit ihrem Bruder die Schule. Sie hatte keinen ISK-Hintergrund und kam aus pädogischem Interesse nach Möllvangen. Ihre Erinnerungen an diesen Besuch geben einen guten Einblick in die in der Schule herrschende Atmosphäre:

„Eine Schule? In dem Wohnzimmer des niedrigen Häuschens saßen um einen Tisch herum acht Kinder und drei Erwachsene. Zuerst fiel mir die ältere Frau auf. Rotes Kopftuch, Brille auf der Nase, øffenbar eifrig an einem Strumpf strickend. Dann war da noch eine jüngere Frau – sie nähte – und ein junger Mann – er hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, zwei Kinder saßen dicht neben ihm. Er las die Odyssee vor [..]. Eine kurze, freundliche Begrüßung folgte und die Aufforderung, uns zu setzen und zuzuhören. Das gespannte, intensive, ganz lebendige Interesse der Kinder, die spürbax freundliche Teilnahme der Erwachsenen beeindruckten mich, gefielen mir. Wohl merkte ich auch, wie genau ich von Minna, der Strickerin im Kopftuch, unter die Lupe genommen wurde; aber es störte mich nicht. Die heitere, konzentrierte Atmosphäre hatte mich eingefangen. Ich erlebte zum erstenmal eine ‚Kapelle‘.[33]

Zwischenstation in Aarslev

Bei den Kindern, die mit Liselotte Wettig aus der Schweiz nach Möllevangen gekommen waren, handelte es sich um die jüngsten Kinder der Walkemühle. Die größeren Kinder und Julie Pohlmann waren vorerst noch in Deutschland geblieben. Um sie nachkommen zu lassen, reichte aber der Platz in Möllevangen nicht aus. Aus diesem Grund, und auch, weil der Mietvertrag für das Haus in Möllevangen im Juli 1934 endete, musste ein neuer Standort für die Schule gefunden werden. Minna Specht entschied sich für den ihr angebotenen Herrenhof Östrupgaard nördlich von Faaborg auf der Insel Fünen.Welt-Icon

Allerdings war ein direkter Umzug nach Östrupgaard im Juli 1934 nicht möglich, da dort Kinderlähmung herrschte. Minna Specht griff deshalb auf das Angebot der Familie Busk zurück, die ihr die Unterkunft in ihrer Gartenbauschule in Aarslev Welt-Icon angeboten hatte. Diese Zwischenlösung dauerte wegen der fortdauernden Kinderlähmung im Gebiet von Östrupgaard bis in den Oktober 1934 hinein. Inzwischen war auch Grete Hermann[34] nach Dänemark gekommen und organisierte zusammen mit Minna Specht die Instandsetzungsarbeiten in Östrupgaard. Zu den mit Liselotte Wettig und Gustav Hermann in Aarslev verbliebenen Kindern kamen im August drei weitere aus Paris hinzu.[35]

Östrupgaard

Dem Umzug nach Östrupgaard gegen Ende Oktober 1934 folgte im Dezember eine den dänischen Behörden vorgelegte „Verfassung des Schulheims Östrupgaard“.[36] Darin wurde ausdrücklich der unpolitische und parteiunabhängige Status der Schule festgeschrieben sowie deren Orientierung an den philosophischen und pädagogischen Grundsätzen von Leonard Nelson. Als offizieller Schulleiter fungierte Gustav Heckmann, dem jedoch ein in wichtigen Fragen zu konsultierender Schulvorstand zur Seite stand. Vorsitzende des Vorstands war Minna Specht, dessen weitere Mitglieder Grete Hermann und Marie Benedicte Gregersen[37]

Östrupgaard um 1900

Im November 1934 kamen aus Deutschland Helferinnen nachgereist[38], darunter auch Hedwig Urbann, die die Wirtschaftsleiterin der Walkemühle gewesen war. Und Charlotte Sonntag, die 1934 zu Besuch in Möllevangen war, gehörte ab Mai 1935 zum Mitarbeiterstab. Ihr wurde die Leitung des Kindergartens übertragen. Als ehemaliger Lehrer der Walkemühke kam dann noch 1937 Hans Lewinski nach Östrupgaard. Die Gruppe der Lehrenden war damit mit Minna Specht, Gustay Heckmann, Liselotte Wettig, Carlotte Sonntag und Hans Lewinski komplett. Hinzu kamen einige nur vorübergehend Lehrende, von 1936 bis 1937 etwa Martha Friedlaender[39], und auch zweitweilig dänische Lehrkräfte, so der Lehrer Karl Lund (geboren 1913, von 1935-37 in Östrupgaard). Minna Specht unterrichtete jedoch nicht regelmäßig, da sie oft politische Freunde in England und Frankreich besuchte und an Kongressen teilnahm.[40]

Zu den acht Kindern, die bereits in Möllevangen dabei waren, und den dreien, die in Aarslev hinzustießen, kamen im Sommer 1935 sieben Kindergartenkinder hinzu. Zwei Jahre später, im März 1937, zählte die Schule 27 Kinder, darunter auch für ein Jahr Bertolt Brechts Tochter Barbara. Es gab zwei ungarische Kinder und zeitweilig einige dänische Kinder, aber der überwiegende Anteil der Kinder hatte deutsche Eltern, darunter viele jüdische. Viele Eltern waren ISK-Anhänger, teils im Untergrund in Deutschland aktiv oder bereits emigriert oder gar in Haft.

Oestrupgaard ist einer der ältesten dänischen Herrenhäuser, seine Existenz lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Es war im frühen 18. Jahrhundert auch der Wohnsitz von Karen Brahe, einer Adelsfrau und Büchersammlerin. Sie erbte und erweiterte eine große Bibliothek, die sie später dem von ihr 1701 gegründeten adelige Jungfrauenkloster in Odense schenkte. Die Büchersammlung ist die einzige erhaltene adelige Bücherbibliothek Dänemarks aus der Zeit um 1700. Die Sammlung enthält ungefähr 3400 Titel, wovon mehrere selten und einzigartig sind.[41]

Zur Zeit als Minna Specht das Anwesen mietete, war es in keinem komfortablen Zustand. Der damalig Besitzer, der Architekt Arne Ludvigsen, dem das Gut von 1933 – 1968 gehörte, bezeichnete es als eine alte Räuberburg. Für Minna Specht muss es wie in den Anfangsjahren in der Walkemühle gewesen sein: kein elektrisches Licht, kein fließendes Wasser, keine Zentralheizung, ein regelmäßig zu leerendes „Plumsklo“ statt einer normalen Toilette.[42] Doch die dadurch bedingte spartanisch-puritanische Lebensweise war ja Teil des Konzepts der Schule: Ablehnung von Komfort und Luxus, Unabhängigkeit von materiellen Gütern. Die Ernährung war vegetarisch, die benötigten Produkte wurden weitgehend auf dem eigenen Gelände erzeugt. Selbst die Kleidung wurde selbst hergestellt. Lehrende, Lernende und Helfer lebten in einem sozialistischen Kollektiv, und selbstverständlich erhielten Lehrende und Helfer auch kein Gehalt, sondern nur freie Kost und Logis. Eventuell vorhandenes privates Vermögen wurde in eine „Luxuskasse“ einbezahlt, die besonderen Ausgaben vorbehalten war. Kinder und Erwachsene erstellten gemeinsam den Wochenplan, in dem geregelt war, wer welche Aufgaben (Kochen, Küche versorgen, Wäsche waschen) zu erledigen hat.[43]

Auch ein alter pädagogischer Grundsatz, der schon in der Walkemühle gegolten hatte, wurde neu belebt: Der Unterricht sollte vom Nächsten und Konkreten ausgehen. Praktisch angewendet hieß das, dass alles Interessante innerhalb eines Radius von 5 Kilometern Gegenstand der Erforschung und Beschreibung werden muss. Dieses Prinzip wurde für die unterschiedlichen Altersgruppen differenziert umgesetzt. Der Unterricht gründete sich auf den Initiativen der Kinder, auf ihre Fragen und Probleme. Gemäß der „sokratischen Methode“ sollte der Lehrende die Gespräche der Kinder lenken, aber nicht durch sein eigenes Wissen und Urteilen beeinflussen; er war der Organisator einer guten Forschungsatmosphäre. Der Geist von Leonard Nelson war weiterhin präsent.

Auszeit in Kopenhagen

Nielsen zitierte einen Schüler, der in einem Zeitungsinterview äußerte:

„Ich habe nichts dagegen, den Boden zu bearbeiten, aber ich finde, dafür allein kann man nicht leben. Ich hoffe, daß wir später in die Nähe von Kopenhagen ziehen können, damit wir das Stadtleben und all das Technische etwas besser kennenlernen. Man muß viel sehen und viel nachdenken, um sich darüber klarzuwerden, was man will.[44]

Ähnliche Erwägungen waren es, die Gustav Heckmann Ende September 1936 veranlassten, den sieben ältesten Kindern, sie waren 12 bis 13 Jahre alt, nach Kopenhagen zu ziehen. Das Kennenlernen des Stadtlebens und des Hafens waren definierte Ziele. Begleitet wurde er von Grete Hermann, und wohnen konnte die Gruppe in einem Haus direkt am Hafen. Die Hafenerkundungen und die Auseinandersetzung mit desse Vielfältigen Funktionen war dann tatsächlich ein Schwerpunkt der Lernarbeit. Ein weiterer Schwerpunkt war die Beschäftigung mit Albert Schweitzer, über dessen Arbeit ein selbstverfasstes Theaterstück entstand und aufgeführt wurde. Die von den Besuchern eingesammelten Gelder schickten sie an Albert Schweitzer. Daneben stand Dänischunterricht auf dem Lehrplan, aber auch Kontakte zu und Veranstaltungen mit Persönlichkeiten des Kulturlebens.

Im April 1937 kehrte die Gruppe nach Östrupgaard zurück. Zuvor, kurz vor Weihnachten 1936, waren fast alle Kinder an Diphterie erkrankt und mussten längere Zeit im Krankenhaus verbringen.[45]

Abschied von Dänemark

Am 1. September 1937 wurde Oestrupgaard durch einen Brand so schwer beschädigt, dass die Schule dort nicht mehr bleiben konnte. Das zog eine Aufteilung nach sich: die jüngeren Schulkinder und die Kindergartenkinder zogen mit Charlotte Sonntag und Liselotte Wettig nach Falsled (auch Faldsled) Welt-Icon, die älteren Schülerinnen und Schüler und die restlichen Erwachsenen kamen in einem Försterhof in Hanneslund unter, eine halbe Fahrradstunde entfernt. Dasw bedeutete größere organisatorische Aufwändungen, um den Kontakt zwischen den beiden Einrichtungen aufrecht zu erhalten, und zudem erforderte das Haus in Falsled wegen seiner meernahen Lage und einer nahen Landstraße mehr Einschränkungen im Alltagsleben, um eine Gefährdung der Kinder zu vermeiden. Dafür gab es erstmals elektrisches Licht, fließendes Wasser und ein Wasserklosett.[46]

Weder Nielsen noch Hildegard Feidel-Mertz[47] können schlüssig darüber Auskunft geben, was letztlich zur Entscheidung führte, von Dänemark nach Groß-Britannien zu übersiedeln.[48] Feidel-Mertz unterstellt, dass es nach dem Brand in Östrupgaard schon die Absicht gewesen sei, kein dauerhaftes Quartier in Dänemark mehr zu suchen und berichtet über „bereits angebahnte Kontakte mit englischen Quäker-Freunden“. Nielsen erwähnt den Besuch des Quäkers Peter Scott nur im Zusammenhang mit dem Brief einer Schülerin vom 23. Juni 1938. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich aber die Falsled-Kinder und ihre Betreuerinnen bereits in Groß-Britannien. Liselotte Wettig war Anfang Februar 1938 mit vier Kindern nach Wales abgereist, Charlotte Sonntag folgte mit den restlichen Kindern Anfang April 1938.[49]

Für die in Hanneslund zurückgebliebenen größeren Kinder tauchte im Februar 1938 ein schwerwiegendes Problem auf. Sieben von ihnen waren 14 Jahre alt geworden oder würden dies im Laufe des Jahres werden und damit nicht mehr schulpflichtig. Die drei Alternativen, die sich zunächst für sie stellten: die Schule verlassen, nach Deutschland zurückkehren oder als Emigranten in Dänemark bleiben. Gustav Heckmann versuchte Zeit zu gewinnen und argumentierte den Behörden gegenüber, die Schulausbildung sei erst zu Ostern 1939 abgeschlossen. Zugleich wies er auf die Gefährdung der Kinder hin, wenn sie nach Deutschland zurückkehren müssten. Das Unterrichtsministerium stimmte dieser Übergangslösung zu. Was aber danach passieren sollte, scheint auch seitens der Schule noch unklar gewesen zu sein. Nielsen berichtet von einem Brief Heckmanns an Willi Eichler vom 4. Oktober 1938, in dem er angesichts der politischen Situation in Europa auch eine Übersiedlung in die USA in Betracht zieht.[50] Doch nur wenige Tage später, Anfang November 1938, verließen Gustav Heckmann, Minna Specht, Hans Lewinski und Hedwig Urbann mit 11 Kindern Dänemark in Richtung Wales. Die Reise erfolgte mit Fahrrädern durch Fünen und Jütland nachs Esbjerg und von Harwich über London, von wo es nach Wales weiterging.

Neuanfang und Ende in Groß-Britannien

Cwmavon ist eine Bergarbeiterstadt in Süd-Wales.Welt-Icon Hier hatten die Quäker ein Selbsthilfeprojekt für arbeitslose Bergleute initiiert.[51] Das Projekt wurde allerdings 1939 eingestellt, wodurch sich Minna Spechts Hoffnungen zerschlugen, die Schule in das soziale Leben der Bergarbeiter einzubinden.[52]

Blick auf Cwmavon

In dieser Situation entwickelten Minna Specht und die übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zu denen nun auch wieder Martha Friedlaender gestoßen war, den Plan zur Gründung einer „Internationalen Schule“. Sitz der Schule sollte der Herrenhof Butcombe CourtWelt-Icon in der Nähe von Bristol werden, und April 1940 erfolgte der Umzug. Nach Feidel-Mertz war Butcombe Court ein freundlicher Ort und für ein Landerziehungsheim ideal gelegen und gut ausgestattet. Die Kinder hätten die Entscheidung für diesen Umzug mitgetragen.[53]

Das Ende kam überraschend schnell. Nachdem Minna Specht bereits im November 1939 nach dem deutschen Überfall auf Frankreich verhört worden war, wurde sie kurz nach dem Umzug nach Butcombe Court

Butcomb Court heute

zusammen mit anderen deutschen Lehrern auf der Isle of Man interniert. Die Kinder wurden bei Quäker-Familien, befreundeten Sozialisten und auch in Heimen untergebracht. Die Geschichte des Landerziehungsheims Walkemühle war zu Ende gegangen. Butcombe Court wurde von Minna Specht 1945 im Namen der für die Schule verantwortlichen Stiftung den Quäkern zur Verfügung gestellt, die hier jüdische und halbjüdische Kinder aus Theresienstadt unterbrachten.[54]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die nachfolgende Gründungsgeschichte der Walkemühle stützt sich weitgehend auf das Kapitel 5 (Der Anfang) in dem Buch von Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle.
  2. Zur Geschichte des IJB
  3. Diese Gelder stammten zum einen von Hermann Roos (1864-1939), einem in Frankfurt am Main geborenen und in England erfolgreich gewordenen Geschäftsmann. Er war verwandt mit einem Freund Leonard Nelsons und kam auf diesem Wege mit dessen Philosophie in Kontakt. Weitere Gelder stammten von dem Seifenfabrikanten Max Wolf, dem 1934 enteigneten Besitzer der Firma Dreiturm. Die Schwägerin von Max Wolf war Mitglied im IJB. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 28, 163, 189
  4. Julie Pohlmann gehörte 1917 zusammen mit Nelson und Specht zu den Gründungsmitgliedern des IJB. Zur Geschichte des IJB
  5. Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle, Kapitel 5: Der Anfang
  6. Die Philosophisch-Politische Akademie wurde 1949 als gemeinnützige Organisation neu gegründet. Sie veranstaltet bis heute regelmäßig politische Tagungen und Seminare zum Sokratischen Gespräch und zur Philosophiedidaktik. Homepage der Philosophisch-Politischen Akademie
  7. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 28
  8. Zur Geschichte des IJB
  9. Zur Geschichte des IJB
  10. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 30
  11. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 30. Ausführlich wird die sokratische Methode von Giesselmann in Abschnitt 9 dargestellt: Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle
  12. Recht informativ darüber, wie die Schüler an ihre Ausbildung herangingen, ist der Abschnitt 8 bei: Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle
  13. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 29
  14. Lieselotte Wettig, geboren 1907, arbeitete später auch an den Nachfolgeschulen in Dänemark und Großbritannien und nach dem 2. Weltkrieg als Erzieherin für verhaltensgestörte Kinder in Hamburg. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 191
  15. Julie Pohlmann (1886-1959), Gründungsmitglied des IJB, war bereits unter Ludwig Wunder an die Walkemühle gekommen
  16. Hans Lewinski (1911-1953) arbeitete später ebenfalls an den Nachfolgeschulen in Dänemark und Großbritannien. Er war der Halbbruder von Erich Lewinski, dessen Sohn Tom ebenfalls die beiden Schulen in Dänemark und Großbritannien besuchte. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 187
  17. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 32
  18. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 32
  19. Gustav Heckmann, zitiert nach Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 34
  20. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 37
  21. Minna Specht, zitiert nach Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 37-38
  22. Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle, insbesondere die Abschnitte 10 bis 19.
  23. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 40
  24. Gustav Heckmann, zitiert nach Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 43
  25. Die Schließung der Walemühle ist ausführlich beschrieben und dokumentiert bei Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle, Abschnitt 20 (Das Ende)
  26. Dass Graupe Kommunist gewesen sei, dürfte eher einer Zuschreibung durch die Nationalsozialisten geschuldet sein, denn der Realität. Graupe war der Verfasser der 1927 in Stuttgart publizierten Schrift „Notwendigkeits-Aberglaube oder Klassenkampf?“, in der er sich gegen den marxistischen Determinismus vom notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus ausspricht. Das spricht eher für eine Nähe zu den Gedanken Eduard Bernsteins als zur kommunistischen Doktrin. Vergleiche hierzu: Stefan Wannenwetsch: Unorthodoxe Sozialisten: Zu den Sozialismuskonzeptionen der Gruppe um Otto Straßer und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes in der Weimarer Republik. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, 2010, ISBN 978-3-631-61374-0, S. 55
  27. Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle, Abschnitt 21. Die Geschichte der Gräber ist auch dokumentiert auf der Webseite Die Gräber der Familie Nelson
  28. Minna Specht, zitiert nach: Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 45
  29. Heckmann vermutet dahinter eher Vorstellungen von einem dort realisierbaren einfachen Leben bei billigen Lebenshaltungskosten. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 45
  30. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 46
  31. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 46f.
  32. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 55.
  33. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 57. Die ‚Kapelle‘ war eine schon in der alten Walkemühle praktizierte pädagogische Veranstaltung: „Die Abende in der Kapelle sollten ein Kontrast sein zum übrigen Tagesablauf, wo man mit Aufgaben eingedeckt war, ein Kontrast zum rationalen Unterricht und zur Strenge der auferlegten Pflichten: Kunstgenus - Feier - Sammlung.“ Ihre Abläufe sind bei Rudolf Giesselmann: Geschichten von der Walkemühle, Abschnitt 12, auzsführlich beschrieben.
  34. Über ihre sehr vielseitigen wissenschaftlichen Qualifikationen, insbesondere auch in der Quantenphysik, informiert der Artikel von C. L. Herzenberg: Grete Hermann: An early contributor to quantum theory. Im WorldCat wird weitere Literatur von Grete Hermann nachgewiesen.
  35. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 67
  36. Aus vielen von Nielsen zitierten Dokumenten geht hervor, dass „Schulheim Östrupgaard“ der offizielle Namen der Schule in Dänemark gewesen ist.
  37. Marie Benedicte Gregersen (1902-1960) war eine bekannte dänische Kindergartenpädagogin. Sie ist Mit-Autorin des 1944 erschienen Buchs „Eine Kinderpsychose: ihr Verlauf und ihre Behandlung.“ Auf dänisch ist ihr ein längerer Eintrag im „Dansk kvindebiografisk leksikon“ gewidmet: Marie Benedicte Gregersen
  38. In der Walkemühle war es üblich, von drei Gruppen zu sprechen, den Lernenden, den Lehrenden und den Helfern. Diese Unterscheidung war rein funktional.
  39. Biografie Martha Friedlaender. Martha Friedlaender arbeite später in dem von Minna Specht in England gegründeten „German Educational Reconstruction Committee (GER)“ mit.
  40. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 76
  41. Bestandsgeschichte der Karen-Brahe-Bibliothek
  42. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 78
  43. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 78-79
  44. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 110
  45. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 111-114
  46. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 115
  47. Schulen im Exil. Die Verdrängte Pädagogik nach 1933, S. 89-90
  48. Zum Thema Übersiedlung gibt es bei Nielsen – im völligen Gegensatz zu ihrer sonstigen Arbeitsweise – weder Dokumente noch Verweise auf Protokolle von Sitzungen, in denen das diskutiert worden wäre.
  49. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 115
  50. Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen, S. 123
  51. Einer der Initiatoren war Peter Scott, der die Schule in Dänemark besucht hatte. Minna Specht – eine politische Pädagogin
  52. Minna Spechts Biografie im Bremer Frauenmuseum
  53. Hildegard Feidel-Mertz (Hg.): Schulen im Exil, S. 89
  54. Hildegard Feidel-Mertz (Hg.): Schulen im Exil, S. 90